Der Start eines Ultramarathons ist anders als man es von einem Marathon kennt. Als um halb 11 (nachts) der Wecker klingelt habe ich nur wenige Stunden geschlafen. Müde fragt mich Maria
“Wärst Du sauer wenn ich nicht zum Start mitkomme?”
“Natürlich nicht, Du kannst mir doch eh nur aus der Entfernung zuschauen.”
„Ich komme dann zum Ziel und nehme Dich in Empfang.“
“Im Ziel brauche ich bestimmt Hilfe.”
Nur wenige Gruppen sind unterwegs. Der gestaffelte Start soll für weniger Gedränge Sorgen. Ich habe einen Platz in der zweiten Gruppe. Oben am Himmel ziehen langsam die angekündigten Regenwolken auf. Leise Murmel ich zu mir selbst ‚Bevor die Wolken ankommen muss ich von diesem Berg runter sein.’
Wir sind in eine Art Käfig gesperrt, ein kniehoher Absperrzaun soll verhindern dass wir uns versehentlich in die erste Gruppe mischen. Dadurch dass es mitten in der Nacht ist sehen aber einige Läufer diesen Zaun nicht und stürzen zu Boden.
Kurz vor Mitternacht kann ich den Anheizer die erste Gruppe anfeuern hören. Der Puls steigt, nur noch 10 Minuten bis ich auch loslaufen darf. Der Zaun wird vorsichtig entfernt und alle gehen an den Start.
“Bumm Bumm!” ruft der Anheizer, alle Läufer klatschen.
“Bumm Bumm!” alles klatscht.
Um mich herum reißen Stirnlampen Lücken in die Nacht. Die französische Ansagen verstehe ich nicht. Die Zeit tickt langsam gen Null und alles läuft los. Ich bin direkt in meiner Zone und registriere kaum was um mich passiert.
‘Bloß nicht zu schnell, schön gleichmäßig.’
Einige spurten, der Großteil des Feldes zieht in gutem Tempo am See entlang, bis wir den ersten Berg hinauf müssen. Irgendwann sind die Straßenlampen hinter uns verschwunden und nur noch Stirnlampen erleuchten die Nacht. Im strammen Marsch geht es die Steigungen hoch, doch kaum gibt es 20 Meter Ebene wird wieder gelaufen. Der Puls geht jedes Mal nach oben, keiner will zu langsam unterwegs sein. Alles läuft gut, keine Schmerzen, keine Probleme. Langsam kämpfe ich mich den Berg hoch. Vorbei an der erloschenen Asche der Begrüßungsfeuer kann ich die erste Verpflegungsstation sehen. Hier in Semnoz habe ich aber nicht vor mich lange aufzuhalten. Ein kleiner Becher Suppe, eine Cola werden schnell runter gekippt und die leere Softflask wieder aufgefüllt. Ich muss schnell weiter, die Zeit und das Wetter ticken gegen mich.
Das Feld lichtet sich. Ich kann noch Leute vor und hinter mir sehen, die Gruppen sind aber zerfallen. Bin ich schneller als das letzte Mal? Ich weiß es nicht.
Während ich versuche die Stöcke in meinem Rucksack zu verstauen, zerreißt nur noch meine eigene Lampe die Nacht. Ich nutze das Terrain für mich und lasse die Füße den Boden unter sich vorbeiziehen. Bloß nicht fallen! Ich versuche das gelernte zu nutzen und kleine schnelle Schritte zu machen.
Gegen halb 4 passiert dann das Malheur, ich stolpere über eine unter Blätter versteckte Wurzel im Wald, falle bergab und lande ein paar Meter entfernt hart auf dem linken Knie.
“Fork!”
“Ca va?” fragt jeder Läufer, der mich passiert.
“Bon bon” murmel ich nur.
Der Schmerz ist atemberaubend. Fluchend humple ich weiter, es kann hier noch nicht vorbei sein. Wenige hundert Meter stolpere ich über die nächste Wurzel und kann ein lautes Knacken im Knie vernehmen. Ist jetzt etwas eingerenkt oder weiter kaputt gegangen? Habe ich mir den Meniskus beschädigt? Verschiedene Horrorszenarien gehen mir durch den Kopf.
Der Berg treibt mich weiter nach unten, während schnellere Läufer an mir vorbei durch die Nacht huschen.
Um 6 habe ich es dann über den Berg geschafft und kann in einer kleinen Siedlung meine Flaschen auffüllen. Etwas erschöpft lasse ich mich auf eine Mauer sinken und schicke Maria meinen Standort. Ein weiteres Energiegel muss in den Magen, ich habe eh schon zu wenig Kalorien zu mir genommen. Das Knie drückt ein wenig, behindert mich aber momentan nicht. Die Horrorszenarien gären weiter in meinem Kopf. Es hilft nichts, der nächste Berg ist bereits in Sichtweite. Meine Oberschenkel sind müde, schmerzen aber nicht wie das letzte Mal. Bergauf wird ihnen eine gewisse Entspannung gegeben. Mein Magen beginnt ungute Signale zu senden und es dauert auch nicht mehr lange bis ich das erste Spring Energiegel wieder von mir geben muss. Ich wechsle zu den Honiggels, aufgeben will ich noch nicht.
Gegen 13 Uhr geht es mir furchtbar. Ich habe mich bereits mehrfach übergeben und kann den Energiemangel in meinen Beinen spüren. Langsam wächst in mir der Entschluss in Giez zuerst ein Nickerchen zu machen und dann zu entscheiden ob und wie es weiter geht.
Je näher ich Giez komme desto klarer wird dass die Beine weiterhin gut funktionieren. Kurz vor der Verpflegungsstelle entscheide ich dann dass ich auf jeden Fall weiter laufen werde. Sollte ich bei 87 km aufgeben hätte ich somit eh die ursprüngliche Maxi-Race Distanz geschafft und könnte mir selbst erklären dass ich nicht nochmal antreten muss.
In Giez versuche ich mir Händen und Füße zu erfragen ob man irgendwo ein 15-minütiges Nickerchen machen könnte. Mit einem Lächeln werden mir die Sportmatten gezeigt. Damit ich sie nicht verschmutze lege ich mich daneben und ruhe meinen Kopf auf dem Rucksack auf. Ich werde aber mit einem Grinsen zurechtgewiesen und soll mich auf die Matte legen, nicht daneben. Es ist gerade 14 Uhr, ich bin also 3 ½ Stunden schneller als bei meinem letzten Versuch. Irgendwas scheint dieses Mal besser zu funktionieren.
Nach 15 Minuten klingelt mein Handy, ich schaue kurz nach Nachrichten und hole meinen Dropbag ab. Vor allen anderen ziehe ich mich aus und wechsle meine kompletten Klamotten. In den verschmutzen Zehen stecken aufgeweichte und blasige Füße. In meinem Notfallbeutel ist alles was ich brauche. Die Blasen werden auf gestochen und mit Kinesio Tape gesichert. Ein Sanitäter weist mich darauf hin dass man hier alles habe um mich zusammen zu flicken. Ich erkläre ihm aber dass ich gut vorbereitet bin.
Bei den freiwilligen Helferinnen bitte ich um “Soup.”
Der Topf ist leer und eine Dame wird gerufen. Alle rufen sich “Soup! Soup” zu und kichern belustigt.
Der Magen wird mit ausreichend Suppe und Cola befüllt. Mit einem Lächeln bedanke ich mich. Die Spring Energy Dinger landen direkt im Müll, mein Magen kann sie nicht mehr ausstehen. Alles was ich noch an Honig dabei habe wird mitgenommen, die Batterie in der Lampe getauscht und langsam mache ich mich auf den Weg in Richtung Ziel. Ich bin weiter als 70 km vom Start entfernt, so weit wie gerade habe ich es bisher noch nicht geschafft. Der Ort ist eigentlich ganz schön. Um den Magen nicht zu beunruhigen habe ich mich entschlossen erstmal eine Weile zu gehen und nicht zu laufen. Nur 3 Läufer kommen dabei an mir vorbei. Ein paar Zuschauer rufen mir zu ich solle doch laufen, aber die lassen sich leicht ignorieren. Irgendwann fühle ich mich dann doch gut genug um zu laufen und hänge mich an die Fersen des Vordermannes. Dieser verpasst aber die Richtige Abbiegung.
“Monsieur!” rufe ich ihm hinterher.
Er schaut mich müde an, kommt dann aber wieder zurück. Ich habe gerade einen neuen Lauffreund gewonnen. Wir fangen an uns zu unterhalten. Patrick ist ein Juraprofessor aus Paris, der das erste Mal in Annecy läuft. Seine Meinung über die Organisation des Laufes ist sehr kritisch. Wir schwatzen die kommenden Stunden über alles was uns so in den Kopf kommt und kämpfen uns den nächsten Berg hinauf. Die Stimme die mir zuruft ‘Gib auf, Du schaffst es doch eh nicht!’ wird ruhiger während ich mich mit Patrick unterhalte.
Die erste Steigung den Berg hinauf ist gewaltig. Es ist kein Wunder dass das Ultra-Race 6600 Höhenmeter +/- schafft, sie lassen keine Steigung aus.
Ein Helfer scheint Patrick zu erklären dass die Streckenführung geändert wurde. Von nun an nutzt er jede Gelegenheit nachzufragen wie lange die Strecke noch ist und wie sich die Änderung auswirkt.
Kennst Du das, wenn etwas minutenlang in einer fremden Sprache erklärt wird und man selbst nur 2 Sätze als Übersetzung bekommt?
Ich befinde mich in einer Art Trance, der Körper zeigt klare Defizite was aber insgesamt keinen Einfluss auf unser Geplauder hat.
Im Dunkeln auf einem Pass müssen wir unsere Jacken herausholen und schnell anziehen um bei starkem Wind und Platzregen nicht zu erfrieren. Eine längere Unterhaltung zwischen Patrick und einem Helfer führt zu der Übersetzung
“Er weiß nichts über eine Streckenänderung, wahrscheinlich kriegen die hier nicht so viele News.”
Die Wege werden langsam schwierig. Die zweite Nacht bringt neben der Erschöpfung immer mehr auch Konzentrationsschwierigkeiten mit sich. Gerade jetzt bräuchte ich jedes bisschen an Konzentration um nicht zu stolpern oder mir meinen Knöchel zu verletzen. Immer Mal wieder versuche ich die Welt jenseits der Abhänge zu erspähen um die Aussicht zu genießen und werde durch Stolpersteine schnell wieder ins Hier und Jetzt gezogen.
“Du musst Dich konzentrieren, sonst wird das nichts” denke ich jedes Mal und doch komme ich immer wieder ins Träumen.
Die Wege führen uns teilweise direkt an den steilsten Stellen durch den Wald. Das Herbstlaub am Boden macht es schwer Schlamm, Steine oder Wurzeln zu erkennen.
In der Dunkelheit laufen wir durch ein kleines Dorf, in dem es immer wieder klatschende Menschen gibt. Auf einem Platz wackelt ein Zelt im Wind. Hier drängen sich wenige Läufer zusammen, wir haben ‘Villard dessus’ erreicht. Endlich kann ich wieder versuchen Cola und Suppe zu mir zu nehmen. Ich lasse beide Flüssigkeiten wahllos die Kehle runter laufen und weiß dass es wahrscheinlich die letzte Flüssigkeit sein wird die ich vor dem Ziel zu mir nehmen kann. Meine Flaschen leere ich draußen nochmal aus und lasse in zwei von ihnen Wasser füllen, man weiß ja nicht ob der Magen sich noch der Logik beugt.
Als mich der Schüttelfrost heimsucht weiß ich dass wir schnell weiter müssen. Dieses Zeichen der absoluten Erschöpfung kenne ich schon, hier hilft nur noch Bewegung. Mein Körper kann nicht mehr selbst heizen und braucht Bewegung dafür. Patrick bietet mir lieber weise eine wärmende Unterhose an, die ich aber natürlich bei Regen, auf dem Feld, mit Schüttelfrost nicht anziehen.
Die nächsten Stunden sind nur noch ein Nebel in meinem Gedächtnis. Ich weiß noch dass Patrick mehrfach falsch abgebogen wäre und ich ihn immer wieder zurückrufen musste.
Irgendwo an einer der Steigungen bitte ich um eine kurze Pause. Ich habe eine geniale Idee und versuche sie gleich umzusetzen. Anstatt aus meiner Flasche zu trinken und bei dem Geschmack des Mundstücks würgen zu müssen, fülle ich Wasser in den Becher und trinke von dort. Das Wasser mag aber nur kurz unten bleiben, immer noch kalt würge ich es wieder hoch. Das fünfte und letzte Mal hat mir gezeigt dass ich jetzt nur noch die Zähne zusammenbeißen kann und durchziehen muss. Wir sind ja ‘bald’ da. Ich stütze mich auf das Moos um aufzustehen und stelle sofort fest dass ich direkt in mein Erbrochenes gegriffen habe. Was solls, es muss weitergehen.
6 ½ km vor dem Ziel sind wir auf der Route des Kinderrennens. Endlich zeigen uns Schilder mit gallischen Helden wie weit wir es noch haben. Ich schreibe nochmal Maria und hole alle Kraft raus, die noch drin ist. Plötzlich ist wieder Energie vorhanden, die ich über die Stöcke auf den Boden übertrage. Bergab sehen wir irgendwann den See vor uns. Eine Brücke führt uns über die Straße und auf den Weg am See. Endlich, endlich bin ich hier, ich kann es fast nicht glauben. Ich heize uns zum Endspurt an, es fühlt sich wie ein Spurt an auch wenn es im Video eher wie eine Gruppe Rentner beim Laufen wirkt.
“Los Patrick, Du läufst zuerst durchs Ziel” feure ich ihn an.
Drei Gestalten stehen im Zuschauerbereich und eine ruft mir entgegen
“Bravo Haselmaus!”
Am liebsten würde ich Patrick vor mir her schieben, damit ich schneller zu Maria komme. Etwas sadistisch haben die Organisatoren eine kleine Brücke ins Ziel gebaut, über die man laufen muss. Patrick entscheidet sich direkt daran vorbei zu laufen, bis ich ihn zurück rufe, damit auch ich mit Freude die Glocke läuten kann. Nach etwas mehr als 26 ½ Stunden bin ich nun endlich im Ziel. Wir bekommen, aufgrund der geänderten Streckenführung, nochmal eine halbe Stunde drauf gerechnet.
So fühlt sich der Zieleinlauf am See also an. Leider ist es finster und damit nicht besonders pittoresk. Die Helferinnen lächeln mich an und bieten mir allerlei zu Essen und Trinken an, ich will aber am liebsten raus und zu Maria. Ein bisschen Honigkuchen und einen Becher Suppe nehme ich aber doch mit. Als Geschenk bekomme ich eine sehr interessante Lauftasche und meine Medaille. Nachdem ich zusammen mit Patrick die Dropbags abgeholt habe verabschieden wir uns.
Auf dem Weg zum Hotel hinterlasse ich in einem der Mülleimer die Laufschuhe, vom ersten Teil des Laufes. Den modrigen Geruch vom Matsch werden die nie wieder los. Mich erwartet nur noch eine Dusche und das Bett.